Verraten
Nur noch wenige Treppenstufen und sie ist da. Nur noch ein paar Treppenstufen trennen sie von ihrer Familie. Sie lächelt, freut sich, ihren Mann und ihr Neugeborenes gleich sehen zu können. Die Gewissheit, endlich ein Zuhause zu haben, das Geborgenheit und Wärme ausstrahlt. Solange hatte sie danach gesucht.
Sie öffnet die Tür.
Ich bin wieder da.
Zieht Schuhe aus, hängt den Mantel an die Garderobe, betritt die Küche. Am Tisch sitzt er, mit vor dem Mund verschränkten Händen. Sie sieht ihn an. Er auf ein Blatt Papier auf dem Tisch, zögert, schaut zu ihr auf. Ihr wird unwillkürlich kalt. Ein Schauer, der ihren Rücken hinunterrennt. Misstrauen starrt ihr aus dunklen Augen entgegen, Zweifel, vielleicht auch Zorn.
Was ist denn?
Ich will, dass du das hier unterschreibst.
Was –
Eine Zustimmung zu einem Vaterschaftstest.
Sie erstarrt, wird zu Eis. Ihr Inneres gefriert, gefriert viel zu schnell, das Herz zerberstet.
Und… und warum das?
Seufzen, Blickkontaktvermeidung.
Es muss sein. Du hast zu deinem besten Freund zu häufig und zu engen Kontakt. Ich will nur sicher gehen, dass…
Er sieht sie an, sie atmet aus.
Achso. Wenn das deine einzige Sorge ist.
Sie tritt heran, beugt sich ein Stück herunter, nimmt den Stift. Betrachtet abfällig das Papier, unterschreibt.
Sie geht zum Kühlschrank, öffnet ihn, seufzt.
Ich hab vergessen, Milch mitzubringen. Soll ich noch mal los?
Er betrachtet den Zettel.
Wenn du willst. Dann bring mir aber auch bitte ein paar Zitronen mit.
Stilles Nicken. Sie geht, zieht ihre Sachen wieder an, tritt zur Tür heraus.
Ein stummes Lehnen gegen die Haustür, Zittern. Sie hebt den Kopf leicht an, ein Strom aus Tränen fließt über ihr Gesicht, ihren Hals herab. Als ein Schluchzen sich diesem entwindet, beißt sie sich in die linke Faust. Er soll es nicht hören. Ihr ist immer noch kalt, ihr wird immer kälter, droht zu erfrieren. Senkt sich herab, sitzt auf der Fußmatte, klammert ihre Arme um ihre Beine. Weint, verzweifelt, zerbricht.
Wischt sich nach geraumer Zeit die Tränen aus dem Gesicht, steht auf, verschwindet.
Taucht vor einer anderen Haustür wieder auf, klingelt.
Was machst du denn hier? Und wie siehst du überhaupt aus?
Sie schüttelt den Kopf.
Kann ich rein?
Immer doch.
Sie sieht ihn an, schließt die Augen, sammelt sich. Fasst ihn am Arm und mit der anderen Hand am Gesicht. Blickt ihn durchdringend an.
Er begreift, weicht ihrem Blick trotzdem nicht aus.
Sie tritt noch näher an ihn heran, beide stehen eng. Sie küsst ihn.
Er erwidert es, zieht sie in seine Arme. Zu lange hatte er gehofft, zu lange hatte er sich ihr zuliebe zurückgehalten, um jetzt stark zu bleiben.
Und sie tun zum ersten Mal in ihrem Leben das, was ihr Mann latent schon immer befürchtet hatte.
(03.04.2010)